Demenz – Der lange Abschied
Das Thema und die Beschäftigung mit „Demenz“ drängt sich immer mehr auf in unserer Gesellschaft. Neue Formen des Umgangs mit Menschen mit Demenz werden gesucht und entwickelt. Die Politik nimmt sich des Themas an und versucht neue Wege zu öffnen. Irgendwie spüren wir alle, dass da noch sehr viel auf unsere Gesellschaft zukommt, ja und vor allem auf einzelne Menschen und Familien.

Wovon sprechen wir hier eigentlich? Was ist „Demenz“ genauer? Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „weg vom Geist, vom Verstand“ … es geht also um den Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit. Die Erkrankung ist meist chronisch oder fortschreitend. Dabei kommt es zu Störungen vieler kortikaler Funktionen. Betroffen sind beispielsweise das Gedächtnis, die Lernfähigkeit und die Sprache, das Urteilsvermögen (die Entscheidungsfindung). Das Bewusstsein und die Sinne sind meist nicht betroffen. Dafür allerdings Veränderungen der emotionalen Kontrolle und des Sozialverhaltens.
Damit es zur Diagnose „Demenz“ kommt, müssen die Symptome mindestens sechs Monate bestanden haben. Es gibt primäre und sekundäre Demenzen, letztere sind Folgen einer anderen Erkrankung und können teilweise geheilt werden.
Etwa 90 Prozent aller Formen von Demenz sind allerdings primär und teilen sich in: degenerative Demenz, vaskuläre Demenz und Mischformen. Bei der degenerativen Demenz handelt es sich um den Abbau von Nervenzellen. Sie schrumpfen in bestimmten Hirnregionen oder sterben ganz ab. (Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson gehören dazu). Vaskuläre Demenz entsteht durch kleine, aufeinanderfolgende Hirninfarkte oder Durchblutungsstörungen. Wenn die Risikofaktoren therapiert werden, kann der Verlauf durchaus beeinflusst werden (z. B. bei Diabetes, Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Fettstoffwechselstörungen).
Was können wir tun? Wie uns verhalten, wenn wir einen Angehörigen haben, der eine degenerative Demenz hat, z. B. Morbus Alzheimer? Es gibt verschiedene Stadien und unterschiedlich rasche Verläufe bei der Erkrankung. Ganz zentral in der Betreuung von Menschen mit Demenz ist die „Biografie-Arbeit“. Das heißt, dass man sich genau informiert über das bisherige Leben und Vorlieben des Menschen, der nun eine ungewisse Reise vor sich hat.
Meine Großmutter beispielsweise hatte Morbus Alzheimer, eine degenerative Demenz. Es schrumpften immer mehr Zellen im Hirn – oder starben ab. Wir erlebten mit, wie sie immer mehr Fähigkeiten verlor und ihr Radius immer kleiner wurde. Sie war eine tolle Frau: die erste Frau in Köln, die den Führerschein machte nach dem Krieg. Büroarbeit war immer ihre große Leidenschaft. Sie managte über Jahre alles am Schreibtisch. Ihr Armreif war deutlich verschlissen an der Stelle, wo er immer auf der Tischplatte aufkam, wenn sie schrieb. Sie war ein fröhlicher, geselliger Mensch und machte anderen Menschen gerne eine Freude. Allein aus diesen wenigen Informationen kann man viel erfahren über ihre Person, ihr Verhalten besser verstehen und einen Zugang zu ihr bekommen. Schreiben blieb ein wichtiger Teil von ihr. Auch als sie dann im Pflegeheim war, schrieb sie viele Zettel und heftete sie an ihren Schrank: „Dieser Schrank gehört E.O. und ist noch nicht bezahlt“, stand da unter anderem und unzählige Zettel mit Telefonnummern. Mit Schreiben und Schriftverkehr kam man sehr lange an sie heran. Irgendwann konnte sie allerdings keine Zeilen mehr einhalten und irgendwann kaum noch Buchstaben schreiben, aber sie schrieb noch! Dieser wichtige Teil ihres Lebens blieb sehr lange erhalten.
Ein weiterer Teil ihres Wesens war ihre Heiterkeit, die immer wieder durchkam, nachdem sie die Phase innerer Verzweiflung über ihre Veränderungen überwunden hatte. Danach wandelte sie sich wieder zu einem frohen Menschen, der im Augenblick lebte. Sie sang sehr gerne und lief dabei auf der Dachterrasse des Pflegeheimes mit uns hin und her. Mit Musik und Gesang konnte man ihr Herz immer erreichen und sie erfreuen.
Biografisches Wissen und das Kennen von Vorlieben ist also zentral bei der Begleitung von Menschen mit Alzheimer oder anderen Formen von Demenz.
Als Angehörige hat man eine schwierige Aufgabe vor sich, dem Vater oder der Mutter gerecht zu werden und doch auch auf sich selbst dabei zu gut zu achten. Es braucht sehr viel Kraft, mitzuerleben, wie der eigene Vater, die eigene Mutter immer mehr abbaut und einen evtl. eines Tages nicht mehr erkennt. Vielleicht passieren auch Dinge, die früher niemals vorgefallen wären. Sogenanntes „herausforderndes Verhalten“ und wie wir damit umgehen können, dazu gibt es viele Fortbildungen für Fachkräfte. Wichtig ist, zu verstehen, dass immer eine Botschaft hinter diesem Verhalten steckt. Der kranke Mensch möchte sich ausdrücken, aber es kommen keine Worte, bzw. nicht die ursprünglich gewünschten. Und so sucht sich die Botschaft auf andere Weise einen Weg. Vater oder Mutter sind nicht böse geworden, sondern versuchen sich auszudrücken. Die große Kunst in der Begleitung besteht nun darin, den Menschen so gut kennen zu lernen, dass man spürt, was er ausdrücken möchte. Da sind wir wieder bei der Biografie, bei dem dezidierten Wissen über Freuden und Abneigungen.
Wenn Sie einen Angehörigen betreuen, der an Demenz erkrankt ist, dann kommt der Selbstfürsorge eine ganz große Bedeutung zu. Und Selbstfürsorge ist in diesem Fall auch schon Trauerarbeit. Es ist ein langer Abschied von den Eltern. Sie verändern sich. Sie werden zu neuen Menschen mit der alten Biografie. Viele dieser Menschen sind sehr empfänglich für Emotionen und Stimmungen. Sie spüren instinktiv, dass etwas gut und heimelig ist oder gefährlich und unüberschaubar. Das erschüttert ihr Gefühl und nimmt Sicherheit. Es ist wichtig, Verlässlichkeit zu schaffen und eine schöne Atmosphäre, in der sich die Menschen wohl und geborgen fühlen. Tiere sind übrigens sehr gute Überträger von Emotionen und oft tolle Kameraden, auch im Alter, in solch unbekannten Zeiten.
Achten Sie auf Ihre Grenzen und Möglichkeiten! Es gibt Erlebnisse und Gedanken, die man nicht gerne teilt. Es gibt Gedanken, die man nicht einmal gerne sich selbst eingesteht. Professionelle Begleitung kann da entlasten. Und es tut gut, einen Menschen an der Seite zu haben, der weiß, wovon Sie reden und bei dem man sich tabulos aussprechen kann.
Zum Schluss noch die Frage: wie halten Sie es mit dem Thema: „Patientenverfügung“ und Gedanken über die letzte Lebensphase? Haben Sie da schon Gespräche geführt mit Ihren Eltern, als es noch ging? Wissen Sie, was gewünscht wird? Welche Begleitung es geben soll?
Es hat keinen Zweck, immer alles aufzuschieben, was unausweichlich eines Tages auf uns zukommt. Diese Dinge möchten im Vorfeld geklärt werden. Dann können Ihre Eltern wunschgemäß bestens betreut, begleitet und versorgt werden. Ihnen als Kindern wird diese Klarheit auch helfen: Es ist – bei allem Schmerz – einfach ein gutes Gefühl, wenn wir Klarheit bis zum Tod haben und wissen, es war Mutters Wille / es war Vaters Wille.


Birgit Proske
Praxis für Lebensberatung und Trauerbegleitung (auch Online-Beratungen) Brückenbauerin für Angehörige demenziell erkrankter Menschen
Lindenmatte 28, 79215 Elzach
Tel.: 07682 9258944